wurde auf der Trauerfeier und in den Medien in Form von Nachrufen an ihn erinnert.
Tschack Bum Platsch Fertig. So hat Werner beschrieben, wie er einmal sterben möchte. Mitten im Leben, mitten in der Arbeit, ohne Anlauf, Tschack, Bum Platsch, so ist es auch gekommen und man könnte vermuten, es habe da eine Absprache gegeben mit dem Tod. Wie in der Geschichte vom Spielmann, der mit dem Tod Karten spielt, gewinnt und sich einen Wunsch heraushandeln kann.
Aber es muss da eine gezinkte Karte im Spiel gegeben haben oder einen Satz im Kleingedruckten, den Werner übersehen hat, vielleicht weil er einfach immer viel um die Ohren hatte. Denn dieser Abschied kommt zu früh, um Jahrzehnte zu früh.
Ein Großteil der Kunst besteht aus Protestnoten gegen die Unvermeidlichkeit des Todes, seine Willkür und Niederträchtigkeit, aber auch der Einsicht, dass wir ihn annehmen müssen. Das fällt schwer, in manchen Fällen scheint es unmöglich und so war vollkommene Ungläubigkeit Sarahs und meine erste Reaktion auf diese Nachricht. Werner doch nicht. Das muss ein Irrtum sein. Und ich muss gestehen, irgendwo in einem entlegenen Winkel meiner Seele flackert immer noch die Hoffnung, dass es ein Versehen war und dass es natürlich ein Wiedersehen geben wird, auf der Bühne, bei einem Bier, in einem guten Restaurant…warum nur fällt es so schwer, diese Nachricht zu glauben?
Im Reigen allegorischer Figuren des Mittelalters gibt es neben dem knöchernen Tod mit Sense und Stundenglas auch die Allegorie des Lebens, meist ein Mädchen in festlichen Gewändern, das singt und tanzt. Für mich wäre in einer Neuauflage Werner eine Idealbesetzung: Nicht nur, weil er von Hause aus singen und tanzen konnte und festliche Gewänder mit großer Anmut zu tragen wusste, sondern weil er gern gelebt hat und das Leben in vollen Zügen genoss. Er hatte Lust auf das Leben und einen offenen, neugierigen Blick auf alles, was das Leben an Möglichkeiten zu bieten hat. Wobei Werners Definition von Möglichkeiten vieles einschloss, was andere als das schlicht Unmögliche bezeichnet hätten. Doch Werners Pläne überstiegen solch kleinliche Einteilungen und das Ergebnis gab ihm in den meistens Fällen Recht.
Dafür braucht ein Mensch ein unerschöpfliches Reservoir an Kraft, wenn man unter Lebenskraft die Arbeit und Anstrengung versteht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Denn das hat er getan. Nichts weniger als das. Er hat bewiesen, was möglich ist. Nicht im Sinne und zum Vorteil eigener Lebens- und Karriereplanung, sondern für die anderen, denen er gangbare Wege gezeigt hat. Werner hat die guten Wege gewiesen und hat dafür die Bühne genutzt. Er hat sie für alle geöffnet, hat alle eingeladen und das Theater jeden Tag neu und anders wieder erschaffen, je nachdem wofür die Menschen es benötigten. In „Benötigen“ steckt die Not, aber auch das, was „Not tut“ und das war, aus den Erfahrungen, Wünschen und Ängsten vieler Menschen etwas entstehen zu lassen, das sie brauchten, um Mut zu fassen, auf ihrem Weg weiterzukommen oder um überhaupt einmal irgendwohin zu kommen. Was er ihnen gegeben hat, war Aufmerksamkeit, Zuwendung und Zuversicht. Das Gefühl, von anderen gesehen zu werden, zu merken, dass die eigenen Erfahrungen wichtig sind und dass man etwas kann. Was dabei entstand, war Theater im reinsten Sinne des Wortes. Es ging nicht um Jugend- oder Sozialarbeit, auch wenn es das natürlich oft auch war, es ging darum, etwas wesentlich Menschliches auf der Bühne sichtbar zu machen und das fand ein begeistertes und treues Publikum. Er machte Theater mit Kindern und Jugendlichen, Senioren, Langzeitarbeitslosen, Behinderten, Menschen mit Migrationsgeschichte…es wäre wahrscheinlich einfacher, aufzuzählen, wer nicht an Werners Theaterprojekten beteiligt war. Das war sein Mittel und Handwerkszeug, das flüchtige, wunderbare Theater, das er geschrieben, gespielt, inszeniert und geleitet hat.
Das allegorische Leben auf den gotischen Portalen soll die Eitelkeit alles irdischen Tuns versinnbildlichen, das Vergängliche dieser Welt. Das verbindet das Theater mit dem Leben, das Unwiederholbare, das immer neu Entstehende, das immer Gefährdete und dadurch Überraschende. Und dass in der Gasse immer jemand steht, der mit einer Handbewegung das Licht auf der Bühne löschen kann, weiß jeder, der am Theater arbeitet. Tabori hat einmal geschrieben, dass der Sinn der Kunst vielleicht darin besteht, den Tod ein Weilchen von der Arbeit abzuhalten. Dunkel wird die Bühne dennoch irgendwann am Ende der Vorstellung und bis dahin spielt die Musik und brennen die bunten Lichter. Und dann?
Kommt selbstverständlich der Applaus und mit dem hat unsere erste Begegnung mit Werner zu tun. Sarah und ich gastierten, damals noch als Schauspieler, mit dem Rheinischen Landestheater in Hagen und da hing in der Nullgasse eine Applausordnung für Jesus Christ Superstar, die mit dem schönen Satz begann: „Jesus vom Kreuz, Apostel von rechts“ Es war das einzige Mal, dass wir eine Applausordnung geklaut haben und Werner, der diese Geschichte mochte, hat es uns verziehen. Natürlich, er war ja Jesus. Und da wir gerade von Idealbesetzungen sprechen: Das war er auch für Balú den Bären im Dschungelbuch oder Papageno in der Zauberflöte und unzählige andere Rollen. Jesus, Papageno und Balú, das lassen wir mal so stehen und wirken.
Der zweite Kontakt war ein Telefonat, nach dem ich zu Sarah gesagt habe: „Da hat ein verrückter Sänger angerufen, der ein Stück von uns will.“ Ich fuhr nach Hagen, sah mir eine Vorstellung seines frisch gegründeten Jugendtheaters an, sprach lange mit Werner und das hat mich sofort überzeugt. Das ist vielen Menschen so gegangen, mit denen er Kontakt hatte und die unweigerlich zu Kollegen, Förderern und Freunden wurden. Denn er besaß einen weiten Möglichkeitshorizont, den ich beschreiben würde als die Gabe, auch da Chancen zu sehen, wo jeder andere abgewunken hätte. Und Werner hatte neben dem Ziel immer sofort auch die Wege im Auge, wie man diese Pläne umsetzen kann.
Was wäre der Ort? Die Geschichte? Die Menschen? Wer kann das Vorhaben fördern und wie könnte ein Plan B aussehen? Und irgendwann wurden seine Pläne dann gegen alle Widrigkeiten Wirklichkeit und man konnte sicher sein, dass sein nächster Plan noch etwas wagemutiger und riskanter war, wo wieder jeder andere gekniffen hätte, und so ging das immer weiter und es blieben immer mehr Menschen bei ihm und seinen Vorhaben. Man kam immer nur sehr langsam mit ihm durch die Hagener Fußgängerzone, weil jeder ihn kannte, ihn ansprach, etwas erzählte und etwas wissen wollte. Aus guten Gründen. Sarah und ich zählen zu denen, die immer dankbar waren, Werner zu kennen und ihn einen Freund nennen zu dürfen.
Das Thema des ersten Stückes, das wir für ihn geschrieben haben, war der Tod und wie Jugendliche mit einem endgültigen Abschied umgehen. Das war sein Wunsch und ebenso, dass Musik eine Rolle spielen sollte, damit das Thema nicht zu schwer und düster wird. Das Stück heißt „Nellie Goodbye“, wurde später viel gespielt, aber nur in Werners Premiere habe ich erlebt, dass zum Schluss der gesamte Saal weinte – ein kathartischer Moment, eine Erschütterung, die Erleichterung bringt und der Erkenntnis förderlich ist. So etwas erreicht man nicht mit Tricks, sondern nur durch einen ehrlichen Umgang mit Emotionen und den Dingen des Lebens sowie einer großen Behutsamkeit im Umgang mit dem, was das Schicksal uns manchmal zumutet. Da muss man mit offenem Visier kämpfen und sehr unerschrocken sein, und sowas können nur Theatermacher, die in ihrer Kunst mit barer Münze zahlen und nicht mit ungedeckten Schecks. Was nicht heißt, dass er die Tricks nicht auch draufhatte, wir reden schließlich über einen Theatermacher, nicht über einen Heiligen, obwohl es in diesem speziellen Fall Schnittmengen geben könnte.
Doch hier soll nicht nur von seiner Freude am Ermöglichen des Unmöglichen die Rede sein, sondern auch von dieser besonderen Fähigkeit, alten Hunden doch noch einen neuen Trick beizubringen und den Eseln das Tanzen. Gute Pläne sind das eine, Euphorie das andere, aber die Fähigkeit, Menschen das Gefühl zu vermitteln, so was von hundertprozentig der Richtige zu sein, Entscheidendes zum Gelingen einer Arbeit beizutragen, ist eine besondere Gabe.
Einen Herzensganev nennt das Jiddische solche Menschen, einen Herzensganoven und da erwies sich der Zungenschlag seiner Salzburger Herkunft sicher als hilfreich. Das war kein „Küss die Hand“ Schmäh, sondern der warme melodiöse Dialekt des Salzburger Landes, der seinen Reden, nach Premieren beispielsweise, etwas Inniges, Zugewandtes gab und das große Lob und die tiefe Dankbarkeit, die er da oft formulierte, nie übertrieben wirken ließ. Das alles mit einem fast mediterranen Überschwang, der seinem ganzen Wesen zu eigen war. Ja, und damit kriegte er einen. Immer wieder. Und das war schön.
Werner und wie er die Welt sah, hatte auf viele Menschen eine Wirkung. Früher hätte man das eine Vaterfigur genannt, aber da dieser Begriff einen Hautgout bekommen hat, will ich es anders beschreiben: „You can’t be, what you can’t see“. Wenn man als Jugendlicher vor der Frage steht, wohin die Lebensreise gehen soll, kann es hilfreich sein, jemand zu erleben, der etwas vorlebt, was der eigenen Suche eine Richtung geben kann und da meine ich nicht nur den klassischen Mentor, sondern eine Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit, großzügig, humorvoll, mutig, fürsorglich…man kann nicht googeln, wie man das Leben bei den Hörner packt, wie man Trost spendet und annimmt oder Kummer lindert, indem man die richtigen Worte findet oder einfach nur da ist für den anderen. Das lernt man aus Beispielen und täglichem Erleben.
Werner hat sich selbst nie ganz ernst genommen und seinen Humor nie verloren. Anders hält man das Theater nicht aus. Und er hat nie vergessen, dass die Feier danach einer der Gründe ist, warum man ans Theater geht. Nach den Premieren, dem Sekt und den Dankesreden konnte man oft einen typischen Wernermoment erleben: Eine Zigarette schnorren, ein kaltes Bier und jetzt wird richtig gefeiert. Und wer nicht bei drei auf den Bäumen war, feierte mit, musste mit, war eingeladen und entging seiner Großzügigkeit nicht. Man sollte nur Menschen trauen, die großzügig und genussfreudig sind, vor allem am Theater, denn gute Kunst entsteht nur aus Überschwang und Überfluss. Nach Premieren benannte er voller Begeisterung die Geburtshelferinnen und Geburtshelfer des Erfolgs, selbst als ein solcher benannt zu werden, erschien ihm immer eher unangenehm. „Kunst ist, womit man davonkommt“, hat Andy Warhol gesagt und vielleicht war ihm die ungläubige Freude, wieder mit etwas davongekommen zu sein, Befriedigung genug. Das Gefühl kennt jeder Künstler. Vielleicht auch alle Menschen: Es ist die Verwunderung, dass etwas funktioniert und die Freude an dem, was da ist, was man erschaffen hat und was einem einfach geschenkt wurde im Leben:
Eingebunden zu sein in die Wärme einer großen wunderbaren Familie, ein begeisterter Ehemann, Vater und Großvater und es schmerzt, daran zu denken, dass er in den letzten Monaten immer wieder sagte, dass er sich nun zurückziehen wolle, um mehr Zeit für seine Frau und die Familie zu haben. Er beklagte immer auch, zu wenig Zeit für seine Freunde zu haben, mehr reisen zu wollen, alle zu treffen, die ihm etwas bedeuten. Es ist höchstwahrscheinlich das einzig Positive, das man der Pandemie zurechnen kann, dass diese letzten anderthalb Jahre ihm etwas mehr Ruhe und Zeit mit seiner Familie ermöglicht haben. Oder sich mit Freunden auszutauschen, und sei es nur aus der Ferne. Darin liegt zumindest etwas Tröstliches, wo Trost so schwer ist angesichts der riesigen Lücke, die er in unser aller Leben hinterlässt.
Das war einer der Antriebe seiner Theaterarbeit: Trost spenden. Denn wo Trost Wunden heilt und die Angst nimmt, können Neugier und Selbstgewissheit wachsen. Diese Begriffe haben einen religiösen Beiklang und das kommt nicht von ungefähr, denn das alles lässt sich unter einem Begriff subsummieren, dem des Glaubens und das meint – und nur davon kann ich sprechen – seinem unbedingten Glauben an das Gute im Menschen. Das mag manch einer naiv finden, aber diese Haltung kann ungeheuer ansteckend und wohltuend sein. Wir haben alle von ihm gelernt, wir sind alle an ihm gewachsen, unser Leben wurde reicher durch ihn.
Da es sinnlos ist, gegen den Skandal seines Todes auf das Schärfste zu protestieren, bleibt uns nur, dankbar zu sein für die Zeit, die wir mit ihm verbringen durften.
Ungefähr 10 Jahre war ich alt, als meine Mutter mich ins Theater Hagen mitgenommen hat, um eine Vorstellung des Musicals „Carousel“ zu besuchen. Sie spielte im Orchestergraben Violine, ich saß zwischen fremden Erwachsenen im Saal, doch wir hatten alle Eines gemeinsam: Wir waren gefesselt von der Welt, die sich auf der Bühne auftat, waren berührt von der Liebe der Hauptfiguren Billy und Julie, und ich wusste: So charismatisch, wie dieser Billy möchte ich, wenn überhaupt möglich, irgendwann auch einmal sein.
Ich war erschüttert, als Billy im Stück starb, doch das Musical hatte eine Wendung parat: Der Verstorbene besuchte die Hinterbliebenen, und in meiner Erinnerung weinten alle Figuren auf der Bühne schrecklich um ihn, und auch ich heulte damals genauso wie jetzt, während ich diese Zeilen schreibe. Applaus setzte ein, die Vorstellung war beendet, das Saallicht ging an. Diese Welt – ich wollte, dass sie meine ist; und das würde sie bald werden.
Ich hopste zurück zu meiner Mama, sie packte in der Garderobe zwischen den anderen OrchestermusikerInnen ihre Sachen zusammen.
Ich erzählte wie ein Wasserfall, was ich soeben auf der Bühne alles gesehen hatte, dann verstummte ich schlagartig. Billy, der doch soeben noch tot war, stand auf einmal in der Garderobe und winkte jemanden hinter mir zu, der winkte zurück, aber Billy winkte erneut. Da wusste ich, jetzt meint er tatsächlich mich. Wie konnte das sein, dass jemand, der soeben nicht mehr lebte, jetzt leibhaftig vor mir steht und winkt? Ich war erstarrt, nicht imstande, zurückzuwinken. Wenn Jemand den Tod überwinden kann, dann bist du es, Werner. Du winkst einfach, lächelst, und schenkst einen Sinn, wenn man den Gang der Dinge nicht versteht und nach Antworten sucht.
Dies war meine erste Begegnung mit Werner Hahn, es folgten zahllos viele, die mich an seiner Hand in die Richtung geleitet haben, die ich heute erleben darf. Er gründete ein Jugendtheater; ich durfte seit der Gründung bis zum Schauspielstudium an der Seite wunderbarer WeggefährtInnen erfahren, was Theater bedeuten kann.
Wir schleppten selber für jede Vorstellung aufs Neue die Zuschauerbänke in den Saal des Jugendzentrums, bauten die Technik auf, schütteten unser ganzes Herzblut in diese Zauberwelt hinein, die wir uns und dem Publikum erschaffen wollten. Auf der großen Bühne des Theater Hagen wechselte ich bald die Seite vom Publikum in den Kinderchor, durfte in zahllos vielen Inszenierungen an Werners Seite spielen, und jeden Abend aufs Neue dieses Wunder erleben, das mich mit 10 Jahren so sehr bewegt hatte. Nun war ich ein Teil davon, durfte mit seiner Familie auf der Bühne stehen, und wenn meine Mutter an dem Abend freihatte, so fuhr mich Werner im vollbesetzten Auto trotz des Umwegs nach Hause. „Heute schon genickt?“ fragte er zum Spaß, drückte rhythmisch auf die Bremse, acht Kinderköpfe nickten, alle lachten. Mit dieser Leichtigkeit hat er nicht nur mir unbeschreiblich viel gegeben – eine ganze Region wurde durch ihn bereichert. Seine Kunst berührte, integrierte, schenkte eine Perspektive, wenn die Zukunft einen verängstigte.
Mein Herz, mein Kopf und meine Finger weigern sich, diesen Text zu schreiben, in der Hoffnung, es könnte ewig unwirklich bleiben, solange es noch nicht geschrieben ist. Mein Mentor aus der Kindheit und Jugend, der Vertraute meiner Erwachsenenzeit, der Mensch, der meine Leidenschaft fürs Schauspiel entzündet hat, der mir durch seinen Sohn Dominik den wichtigsten Freund an die Seite gegeben hat, ist gestorben.
Er hat durch seinen kompromisslosen Kampf für die Kunst jede Hürde überwunden und so ziemlich jeden Intendanten in den Wahnsinn getrieben, um seine Vision in die Welt zu tragen, und am Ende waren ihm immer alle dankbar. Ich habe Hoffnung, dass – wenn es dort oben eine Intendanz geben sollte – er nicht lange brauchen wird, um diese unverschämte Erfindung der Vergänglichkeit ein für alle Male abzuschaffen; so kann es doch nicht weitergehen.
Lieber Werner, heute winke ich dir von Herzen zurück, und bin doch nicht weniger erstarrt, als damals; in tiefer Trauer, mit allen Gedanken bei dir, deiner Familie, und all den Menschen, die dich jetzt ganz furchtbar vermissen.
Danke für Alles, was du gegeben hast.
Siegen. Wohl noch nie waren die heimischen Theaterfreunde so geschockt wie Anfang September, als sie vom Tod Werner Hahns erfuhren. Werner Hahn soll tot sein? Hatte er nicht noch vor zwei Tagen gemeinsam mit Michael Nassauer bei „Apollo begrüßt“ ein Konzert der Philharmonie Südwestfalen besprochen? Oder wenige Wochen zuvor beim Sommerfestival noch seine umjubelte Fußball-Revue „Siegen heißt gewinnen“ auf den Rasen des Leimbachstadions gebracht? War er nicht noch voller Pläne für die Zukunft? Seine Inszenierung der „Bremer Stadtmusikanten“ als Kinderstück für die Vor-Weihnachtszeit war schon fertig. Aktuell arbeitete er an der Vorbereitung einer Aufführung anlässlich des 75. Bestehens unserer Zeitung, wie immer mit jungen Leuten, die er wie kein anderer für das Theater begeistern konnte. Und mittendrin während einer Probe starb Werner Hahn. Er wurde 65 Jahre alt.
In einer Bühnenrevue an Werner Hahn zu erinnern, ist nicht einfach. Zu vielfältig und zu tief sind seine Spuren, die er in den fünf Jahren als Leiter des „Jungen Apollo“ hinterlassen hat. Er schrieb und führte Regie in „Fahr deinen Film“ oder „Ich atme gerne Sauerstoff“, er inszenierte „Hallo Nazi“, „Hey Boss“, für die ganz Kleinen „Auch der Opa fährt im Hühnerstall Motorrad“ und für die erwachsenen Musikfreunde „Im weißen Rössl“, war für die Dramaturgie und Produktion von „Kalif Storch“ und „Frau Holle“ verantwortlich.
Werner Hahn war auch ein beeindruckender Schauspieler, schließlich hatte der 1956 in Salzburg Geborene am dortigen Mozarteum Gesang studiert und anschließend zahlreiche Opernrollen verkörpert. Auf der Apollobühne brillierte er unter anderem beim „Dschungelbuch“ und in „Der kleine Prinz“. Und auch als Moderator war er gefragt. Sowohl auf der großen Bühne als auch bei „Apollo begrüßt“, welches er nach Jan Verings Pensionierung übernommen hatte. Es trifft ins Schwarze, wenn viele Theaterfreunde sagen: Werner Hahn war das Gesicht des Apollo. Intendant Magnus Reitschuster fragt sich in seiner Begrüßungsrede: „Wo nahm er diese unglaubliche Energie her?“, um später, bezogen auf die „Bremer Stadtmusikanten“, Werner Hahns letzte Produktion, die im Dezember auf der Apollobühne zu sehen sein wird, auch hinzuzufügen: „Eine Inszenierung überlebt ihren Regisseur, das ist traurig und tröstlich zugleich.“
Was durch den Tod von Werner Hahn verlorengegangen ist, bekommen seine vielen Freunde im Laufe des Abends deutlich zu hören und zu sehen. Zunächst durch riesige Fotos, eine Chronologie seiner Produktionen. Werner Hahn dabei in voller Aktion, immer freundlich meist lächelnd. Und wenn dann die Tänzerinnen aus seiner Revue „Siegen heißt gewinnen“ nach und nach auf die Bühne kommen, singen und tanzen und dann das Lied „Ich wünsche dir Glück und eine gute Reise“ präsentieren, schlucken selbst die Hartgesottensten im Theatersaal. Dalila Niksic, als Regieassistentin seit zwei Jahren Werner Hahns engste Mitarbeiterin, bringt die Absicht des Abends auf den Punkt: „Wir wollen keine Gedenkveranstaltung im üblichen Sinn. Wir wollen nicht darüber reden, sondern es zeigen.“ Also folgen Szenen aus „Fahr deinen Film“, „Ich atme gerne Sauerstoff“, das Ergebnis eines Sommercamps mit Schülerinnen und Schülern, und vor allem hinreißende Szenen aus „Im weißen Rössl“ mit den Ohrwürmern „Zuschaun moag i net“ und „Im Salzkammergut kammer gut lustig sein.“ Ganz still wird es im Theatersaal ganz am Ende des Programms, beim Schlaflied aus den „Bremer Stadtmusikanten“, bei dem sich Pascal Hahn, Werner Hahns Sohn, mit seinem Flügelhorn musikalisch einklinkt, nachdem er das Kondolenzbuch zum Tod seines Vaters entgegengenommen hat. Würdiger und emotionaler konnte der Abschied von diesem großen Theatermann nicht sein.
Der berühmte Regisseur Claus Peymann war sprachlos, als er mit dem Hagener Theaterkünstler Werner Hahn im Jahr 2016 durch die Hagener Fußgängerzone flanierte. Auf Schritt und tritt schallte den beiden Männern ein fröhliches „Hey Werner“ entgegen, von Jungen mit und ohne türkische Wurzeln, Frauen und Männern aller Altersstufen und sozialen Gruppen sowie vielen, vielen Kindern, einige davon im Rollstuhl. Für fast alle von ihnen wäre das Theater ein unerreichbarer Ort geblieben. Werner Hahn öffnete diese magische Welt in die Stadtgesellschaft hinein. Der Katholik glaubte unerschütterlich an die verändernde Kraft des Theaters. Sein vorzeitiger und überraschender Tod im Alter von 65 Jahren hinterlässt Familie, Freunde, Weggefährten und Tausende von Kulturfreunden fassungslos und traurig.
Wer Werner Hahn kennenlernen durfte, war fasziniert von der unerschütterlichen Energie, der überbordenden Kreativität, mit denen dieser Künstler seiner Vision treu blieb. Bei allem Tempo seiner Arbeit erschließt sich die Persönlichkeit Werner Hahn aber erst mit dem Blick auf das Leise und Langsame. Nach Siegen, wo er seit der Spielzeit 2017/2018 mit großem Erfolg das Junge Apollo aufbaute, fuhr er beispielsweise von seinem Wohnort Hagen aus gerne über die Landstraßen, in gemächlicher Reisegeschwindigkeit, was ihm die Gelegenheit gab, Landschaft zu genießen und oft auch anzuhalten, um besondere Landschaftsstimmungen zu fotografieren. Der vielbeschäftigte Theatermacher war zeitlebens ein Sucher und Entdecker, der die ausgefahrenen, die geraden und schnellen Wege scheute.
An der Oper Zürich fand der junge Bariton aus Salzburg 1978 sein erstes Engagement und lernte dort auch seine Frau Micheline kennen. Sieben Kinder machten das Eheglück perfekt, und „begeisterter Opa“ wurde immer öfter zu einer Lieblingsrolle. Als Solist gehörte Werner Hahn ab 1982 zu den populärsten Künstlern am Theater Hagen, er liebte diese Bühne, und die Bühne liebte ihn. Der Ensemblegedanke war ihm wichtig, jene theaterspezifische Mischung aus erfahrenen und jungen Künstlern, die sich gegenseitig befruchten. Werner Hahn, der Hochprofessionelle, kannte jeden Theatereffekt, er wusste genau, wie er welche Wirkungen erzielen konnte, und doch verlor sein Spiel und später auch seine Regiearbeit nie die Unschuld des immer Neugierigen.
So hätte es weitergehen können, beifallsumrauscht, hochgeachtet, doch irgendwann war das Sängerdasein nicht mehr genug. Werner Hahn ging stattdessen in die Drogenkliniken, in die Förderschulen und Flüchtlingsheime. Er gründete im Jahr 2000 am Theater Hagen das Lutz, ein innovatives Jugendtheaterprojekt. Hahn war überzeugt, dass das Theaterspiel kleine und große Wunder vollbringen kann. So brachte er die ins Rampenlicht, die eine Stadtgesellschaft sonst übersieht. „Darin habe ich mehr Aufgabe gesehen, als zum siebten Mal den Papageno zu singen, schilderte er einmal im Interview.
Anfangs wurde er deswegen als Sozialromantiker belächelt. Denn das Jugendtheater hatte zu jener Zeit kaum Anerkennung, es war für viele Intendanten ein notwendiges Übel, bei dem man ohne allzu viel Leidenschaft Schulklassen mit pädagogisch gebotenen Stoffen abfertigte. Schnell sprach sich herum, dass es im Lutz des Theaters Hagen anders zugeht. Denn bei Werner Hahn waren Jugendliche nicht nur das Publikum, sie waren auch die Akteure.
Heute berühmte Schauspieler wie Sabin Tambrea hatten so die Chance, ihre Begabung auszuprobieren. Aber das Ziel war nicht, künftige Stars zu entdecken, sondern zu vermitteln, dass es noch etwas Anderes gibt im Leben, etwas, das verbindet, das Wunderbare. „Ich versuche, Menschen abzuholen, Menschen mit Behinderung, Flüchtlinge, Menschen in Randsituationen. In Städten wie Hagen und Siegen, wo die Gesellschaft bunter wird, haben wir ein Problem mit der gemeinsamen Mitte. Jeder rennt sich an seinem Rand wund, aber wir haben kein Vertrauen zu einer gemeinsamen Mitte, wo jeder seins mitbringt und etwas Neues entstehen kann“, begründete er.
Jahrelang schrieb und inszenierte Hahn die Weihnachtsmärchen am Theater Hagen, und immer standen darin Jungen und Mädchen im Mittelpunkt, die nicht den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen und es trotzdem mit Mut und Freundschaft schaffen, sich zu behaupten. Am Apollo Siegen setzte er diese Arbeit fort. Auf dem Hagener Weihnachtsmarkt lebt Hahn mit seiner Stimme weiter; er erzählt die Geschichten in den beliebten Märchen-Schaukästen.
Schubladendenken war Werner Hahn verhasst. Die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen erfüllten ihn mit Besorgnis, gerade die Diskussion, in Theater und Film Rollen nach ethnischen Gesichtspunkten zu besetzen statt nach künstlerischen. Für Hahn war das Theater der Ort, an dem jeder Mensch alles sein konnte, ein Ort der Verwandlung. „Bei uns steht die Türkin oder der Behinderte nicht auf der Bühne, weil sie Türkin oder behindert sind, sondern, weil sie so interessante Menschen sind“, sagte Hahn. „In der Kunst zählt nicht die Schachtel, in der man drin steckt, in der Kunst zählt das Individuum.“
Zum 75-Jahr-Jubiläum der Westfalenpost hat Werner Hahn das Stück „Mücken auf der Haut“ geschrieben, eine mobile Theaterproduktion zum Thema Alltagsrassismus. Im Oktober sollte im Pressehaus Hagen die Premiere sein.
Und dann gibt es noch diese Seite von Werner Hahn, die öffentlich wenig bekannt war: sein ehrenamtliches Engagement. Bei allen Pflichten fand er die Zeit, in Altersheime und ins Hospiz zu gehen, um dort mit seinem Gesang Freude zu bereiten. Zusammen mit seinem Freund und langjährigen künstlerischen Weggefährten Prof. Reinhard Leisenheimer (1939 – 2014) hat er diese Tradition vor Jahrzehnten am Theater Hagen begründet und nach Leisenheimers Tod weitergeführt. Wie jeder Künstler liebte und brauchte Werner Hahn den Applaus, aber der Beifall war nicht sein Antrieb. Sein Antrieb waren der unbeirrbare Glaube, dass Theater die Welt ein bisschen besser machen kann und die Überzeugung, dass ein Künstler gegenüber der Gesellschaft eine Verantwortung hat.
Was soll man sagen, was schreiben? Dass wir fassungslos sind über den plötzlichen Tod Werner Hahns? Dass eine große Lücke in der Hagener Kulturlandschaft entsteht? Sicher. Wir – die Kollegen aus der Stadtredaktion, die ihn zum Teil seit Jahrzehnten kannten – sind unendlich traurig. Werner Hahn war nicht nur ein großer Theatermann, sondern auch ein feiner Mensch. So hätte der 65-Jährige gestern einen Auftritt im stationären Hospiz gehabt. Mit seinem langjährigen Freund und Wegbegleiter Siegfried Gras hätte er den Hospiz-Bewohnern einen schönen Wiener Caféhaus-Nachmittag beschert. Und das mit Sicherheit mit genau so viel Leidenschaft wie auf den Hauptbühnen großer Theater.
Der gebürtige Salzburger hat in Hagen, wo er seit 1982 als Solist am Theater engagiert war (bis 2017) und an dem er vor über 20 Jahren das Kinder- und Jugendtheater Lutz gegründet hat, tiefe Spuren hinterlassen. Der Familienmensch packte auch unbequeme Themen an und brachte sich im kulturellen, sozialen und karitativen Leben ein. Und die Benefizversteigerungen der WPStadtredaktion, die die jährliche Weihnachtsaktion flankierten, wären ohne den Sympathieträger undenkbar gewesen. Mit österreichischem Charme und amüsanten Sprüchen schwang er 15-mal als Auktionator den Hammer – auch dank Werner Hahn haben wir in all den Jahren über eine Viertelmillion Euro für soziale Einrichtungen wie die Suppenküche, fürs stationäre Hospiz oder für Vereine wie „Drachenherz“ eingenommen.
Viele Hagener trauern um Werner Hahn, und auch Hagens Oberbürgermeister Erik O. Schulz drückt sein Bedauern über seinen Tod aus: „Die Nachricht von seinem Tod hat mich betroffen und traurig gemacht. Es war eine tolle Zeit der Zusammenarbeit, ich habe Werner Hahn bewundert, seine unbändige Energie und Kreativität haben die Menschen mitgerissen. Er hat die Kunst immer auch im Kontext sozialer Fragen gesehen. Kunst als Vehikel für Integration zu nutzen und mit einem Bildungsauftrag zu verknüpfen, das hat Werner Hahn vorangetrieben. Ich bin mit ihm auch über seinen beruflichen Abschied am Theater Hagen hinaus in regelmäßiger, freundschaftlicher Verbindung geblieben. Ich werde ihn nicht vergessen.“
Michael Fuchs, früher Verwaltungsdirektor und Geschäftsführer des Theater Hagens, hat zehn Jahre mit Werner Hahn zusammengearbeitet. „Der Schock über seinen Tod ist da, aber im Moment kann sich noch niemand vorstellen, wie groß der Verlust sein wird. Werner Hahn war für Hagen nie verloren.“ Zum Hintergrund: Obwohl Werner Hahn im Sommer 2017 dem Hagener Theater den Rücken kehrte und kurze Zeit später das Junge Apollo in Siegen aufbaute, gehörte der in Haspe Lebende bis zu seinem Tod zu den beliebtesten Persönlichkeiten der Stadt.
Anja Schöne, Werner Hahns Nachfolgerin im jungen Theater, beschreibt ihn als hochgeschätzten Kollegen, der mit dem Lutz einen einzigartigen Ort für junge Hagener geschaffen habe, „und wir arbeiten daran, dass diese wichtige Stätte weiterhin wächst und blüht“.
Auch Jost Lübben, Chefredakteur der WESTFALENPOST, ist tief betroffen: „Werner Hahn war enorm inspirierend und den Menschen sehr zugewandt. Seine Themen sind und bleiben auch unsere – der Dialog mit den Menschen über die Generationen und kulturelle Unterschiede hinweg. Aus dem gemeinsamen Nachdenken über diesen Dialog ist das Stück „Mücken auf der Haut“ entstanden. Den Termin für die Uraufführung am 10. Oktober in der WP-Arena hatten wir erst kürzlich verabredet.“
Unsere junge Kollegin Leandra Stampoulis, mittlerweile Redakteurin in Schmallenberg, hat jahrelang im jungen Theater geschauspielert. Sie erinnert sich: „Elf Jahre stand ich auf der Lutz-Bühne, und Werner war immer da. Wir haben zusammen verrückte Ideen entwickelt, gelacht und auch geweint. Werner Hahn hat mir beigebracht, an mich selbst zu glauben, Menschen nicht für ihre Lebensgeschichte oder ihr Aussehen zu verurteilen. Ohne Werner wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin.“